Prolog
Während er aus dem Fenster stürzte, war er sich sicher, dass er das Richtige tat. All die Chancen, die er im Leben vertan hatte, zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Er hätte viele Dinge verhindern und Gutes bewirken können, tat er aber nicht. Jedes Mal hatte ihn die Angst wie gelähmt, und die Hoffnung in seinem Inneren war groß genug, um zu glauben, dass alles von allein gut werden würde. Wie dumm er doch gewesen war. Aber nicht heute! Heute definierte er sein Leben neu, auch wenn es mit dem Tod begann. Wenn er schon nicht fähig war, all die anderen zu retten, dann wenigstens sie.
1. Davi
Dunkelheit und Stille zierten die unauffällige Straße am Stadtrand von Hamburg. Die einzige Bewegung war die des frischen Windes, der an den Baumkronen zerrte. Am Straßenrand parkten vereinzelte Autos. In einem davon saß Davi und wartete. Der Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kurz nach vier war. In knapp zwei Stunden würde die Sonne aufgehen. Das konzentrierte Warten strengte ihn an. Die Müdigkeit übermannte ihn, die beste Zeit schlafen zu gehen, aber das würde Vin nicht zulassen. Er gähnte und rieb sich mit den Handballen die Augen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er daran dachte, wie Maria das tat und so ihre Wimperntusche komplett unter den Augen verteilte. Mit den dunklen Schatten sah sie aus wie ein Waschbär. Sobald er an Maria dachte, durchzog ihn eine wohlige Wärme, dass ihm das Herz aufging, aber nur für einen kurzen Moment, denn dann wurde ihm bewusst, dass er sie vielleicht nie wiedersehen würde. Er vermisste sie wahnsinnig. Das Wohlgefühl verschwand und hinterließ einen unangenehmen Kloß im Hals. Ein entgegenkommendes Auto ließ ihn aufschrecken. Er drückte sich tief in den Sitz. Sein Puls raste, und er hoffte, dass niemand auf ihn aufmerksam werden würde. Als der Wagen vorbei war, atmete er laut aus und beruhigte sich langsam. Entspann dich! Er riss die Augen auf, um sich besser konzentrieren zu können. Das Auto hätte er viel früher bemerken müssen. Von seinem Platz aus war es ihm möglich, fast einen halben Kilometer der Straße einzusehen. Das war wichtig, wie ihm Vin vor zwei Wochen unmissverständlich eingetrichtert hatte. In seinem Kopf hallte das Gespräch mit ihm nach.
Er sah sich in Vins Wohnung. Sie war klein und nur mit dem Nötigsten ausgestattet, doch jedes Gerät und Möbelstück war von hochwertiger Qualität. Davi fühlte sich fehl am Platz, irgendwie eingeschüchtert. Er hatte Angst etwas kaputtzumachen und bis an sein Lebensende für Vin arbeiten zu müssen. Und auch wenn er dessen Geschmack durchaus schätzte, war ihm alles andere an diesem Mann zuwider. Davi befand sich gerade in der Küche, um sich vorsichtig einen Tee aufzugießen, als Vin plötzlich die unerträgliche Stille durchbrach. »Ich habe einen neuen Auftrag für dich!« Davi zuckte innerlich zusammen. »Es gibt da jemanden, der noch in seine Spur gewiesen werden muss, du verstehst, was ich meine?« Vin lachte laut auf. Davi schloss die Augen und atmete kopfschüttelnd aus. »Ich möchte das nicht mehr.« Seine Hände zitterten unkontrolliert, sodass er die dampfende heiße Tasse vor sich abstellte. »Das ist ganz ehrenhaft, dass du das nicht möchtest, aber was du möchtest, steht hier nicht zur Debatte, mein Lieber.« Seine Stimme wurde fester. »Du wirst tun, was ich von dir verlange, sonst wirst du Maria nie wiedersehen.« Die Erinnerung an diese Worte schmerzten so sehr in der Brust, dass es ihn fast zerriss. Er rüttelte die Gedanken daran aus seinem Kopf, rieb sich angestrengt über Stirn und Augen und sah nachdenklich auf den Asphalt. Eine gefühlte Ewigkeit war vergangen. Davi gähnte und ließ die Schultern kreisen, um die erdrückende Müdigkeit zu vertreiben. Doch sie blieb und legte sich schwer über seine Lider. 4:34 Uhr. Er kramte in der Jackentasche herum und fischte sein Handy heraus, gab die vierstellige PIN ein, den Geburtstag seiner Frau, und tippte eine Nachricht.
»Hi Erik! Ich muss heute länger arbeiten. Mein Akku ist leer, darum schreibe ich nicht von meinem Handy. Bis dann, Kuss.«
Er zögerte, schrieb zu Ende und hielt beim Anblick des Senden–Buttons wiederholt inne. Seine Finger zitterten leicht. Mach schon! Trotz der warnenden Aufregung, die sich in seinem Inneren breit machte, drückte er schließlich auf Senden. Es musste sein. Er hatte keine andere Wahl. Schwer atmend schloss er die Augen und lehnte für einen kurzen Moment den Kopf nach hinten. In was war er da nur hinein geraten? Als er wieder aufsah, fühlte er sich nicht besser. Er blickte auf das Handy in seiner Hand und tippte darauf herum, bis sich die Bildergalerie öffnete. Es waren unzählige Fotos, die sich auf sechs Ordner verteilten. Die meisten zeigten Naturaufnahmen, Urlaubsbilder und Schnappschüsse von Maria, doch diese interessierten ihn im Moment nicht. Nach einer Ewigkeit des Herumscrollens hatte er schließlich gefunden, wonach er suchte. Zwei helle blaue Augen starrten ihm entgegen. Zerzauste dünne Haarsträhnen lagen quer über der verschwitzten Stirn. Der Mund hinter dem Klebeband nur zu erahnen. Blut lief aus einer Wunde am Kopf. Flehend sah ihn der ältere Mann auf dem Bild an, und Davi schluckte schwer.
2. Sarah
Seit über acht Stunden stand Sarah am Black Jack Tisch und ließ elegant die Karten durch ihre Finger gleiten, als sie endlich das erlösende Schulterklopfen verspürte. Sie beendete den aktuellen Spielzug mit einem Unentschieden, denn der Spieler zu ihrer Rechten, der sich selbst »Der Zocker« nannte, wies die gleiche Anzahl an Punkten auf wie sie. »Glück gehabt, Mädchen! Hättest du mir jetzt noch das Geld aus der Tasche gezogen, hätte ich dich übers Knie legen müssen«, lachte er süffisant und blies den Rauch seiner billigen Zigarre quer über den Tisch. Sarah lächelte den in die Jahre gekommenen Sonnyboy freundlich an, auch wenn sich in ihrem Kopf sämtliche verbale Gegenattacken bildeten. »Ich wünsche noch einen angenehmen Abend, Gentleman«, verabschiedete sie sich. Als sie die Toke Box mit ihrem Trinkgeld zusammen packte, warf ihr »Der Zocker« einen blauen Chip zu. »Bis morgen, Schätzchen!« »Vielen Dank! Bis morgen«, antwortete sie höflich, steckte den Zehn-Euro-Chip zu ihrem restlichen Trinkgeld und verließ immer noch lächelnd ihren Arbeitsplatz. Als sie mit der Hilfe ihrer personalisierten Zugangskarte den Mitarbeiterraum betrat, schraubte sie mit einer dezenten Geste an ihrer Wange das eingefrorene Lächeln runter. Den halben Tag vor sich hinzugrinsen war nicht immer leicht. Als Kartendealer war sie den Launen der Spieler ausgesetzt. An beschissenen Tagen hagelte es üble Beschimpfungen, schleimige Anmachen oder Handgreiflichkeiten. Letzteres kam zum Glück nicht so häufig vor. Aber natürlich war nicht alles schlecht. Es gab auch viele gute Tage, zum Beispiel, wenn die Spieler am Tisch entspannt waren und sich nett unterhielten. Meistens geschah das, wenn sie gewannen. Dann geizten sie auch nicht so mit dem Trinkgeld. Noch nie war Verlieren so lukrativ gewesen. Sarah ging zu Chantal, um ihre Chips zu tauschen. »Moin. Wie war dein Tag?«, schnurrte ihre Kollegin ihr Kaugummi kauend entgegen. »Ganz okay. Der Zocker war heute recht entspannt«, erzählte Sarah. Sie dehnte angestrengt ihren Nacken, bis es knackte. »Dat hört sich nicht gut an. Du musst endlich mal zu einem Physiotherapeuten«, mahnte Chantal in ihrem unverwechselbaren nordischen Dialekt, während sie Sarah auszahlte. »Ja, du hast recht. Ich mach das, wenn ich Urlaub habe«, versuchte sie sich aus dieser Unterhaltung zu winden, aber Chantal ließ nicht locker. »Ich gebe dir morgen die Nummer von meinem, der ist echt spitze. Niemand hat mich so berührt wie er«, schwärmte sie, ohne sich der Mehrdeutigkeit bewusst zu sein. Sarah musste schmunzeln und nickte. »Versprich mir, dass du ihn anrufst!« »Okay.« Sarah rollte gespielt mit den Augen. »Ich nehme dich beim Wort. Wenn du dat nicht tust, lege ich dich übers Knie«, drohte sie lachend. »Da wärst du schon die Zweite heute«, erwiderte Sarah, mehr zu sich selbst, während sie sich zur Umkleide wendete. Im Laufen hob sie die Hand und wünschte Chantal einen guten Morgen.
Es war um diese frühe Morgenstunde recht frisch draußen, obwohl erst September war. Sarah kramte zwei dünne Handschuhe aus ihrer Jackentasche und schlenderte zu den Fahrradständern. »Verdammte Scheiße!« Jemand hatte sich an ihrem Fahrrad zu schaffen gemacht. Das Vorderrad fehlte. Na klasse. Ihre Füße schmerzten so unerträglich wie die Schultern, und sie wollte einfach nur schnell nach Hause. Am liebsten hätte sie sich jammernd auf den Boden geworfen, wollte heulen und schreien wie ein bockiges Kleinkind, aber selbst das erschien ihr heute zu anstrengend. Resigniert wägte sie im Kopf alle Möglichkeiten ab, die ihr blieben, und entschied sich dafür, zur Bahn zu laufen. Ein Taxi wäre zwar die entspanntere Lösung, aber dafür war sie zu geizig. Und so setzte sie sich mit einem tiefen Seufzer in Bewegung.
3. Hans
Auf dem Weg zum Auto lockerte Hans seine Krawatte. Er öffnete die Fahrertür und ein Schwall heiße Luft strömte ihm entgegen. Es war zwar erst Mai, aber die Sonne brannte schon seit drei Tagen wie im Hochsommer. Achtlos warf er seine Aktentasche auf den Beifahrersitz, steckte den Autoschlüssel ins Zündschloss und drehte ihn. Der Motor brummte auf und Hans ließ schnell alle Scheiben hinunter. Er saß noch keine zwei Sekunden im Auto und schwitzte schon so stark, als hätte er eine halbe Stunde intensives Hanteltraining absolviert. Dabei fiel ihm etwas ganz Wichtiges ein. Er stemmte sich mühsam aus dem Wagen, zog die Jacke aus und suchte in den Taschen nach seinem Handy. Als er es in den Händen hielt, überlegte er, ob er seine Frau anrufen oder ihr doch nur eine Nachricht schreiben sollte. Kurzerhand entschied er sich für eine SMS, dann musste er sich nicht auf eine lange Diskussion einlassen, falls sie wieder launisch war.
»Ich habe jetzt Feierabend. Gehe zum Training. Bis dann.«
Er drückte auf Senden. Überlegte kurz und verschickte zusätzlich ein:
»Ich denke an Dich!«
Das würde sie besänftigen, für alle Fälle. Nachdem er das Handy in der Hosentasche verstaut hatte, ließ er sich auf den Fahrersitz plumpsen. Es war zwar noch immer sehr warm im Wageninneren, aber nicht mehr so unerträglich wie beim Öffnen. Hans schnallte sich an und manövrierte den silbernen Ford Mondeo mühelos in den fließenden Feierabendverkehr. Er fuhr nach Norden, in die entgegengesetzte Richtung des Fitnessstudios. Hans parkte sein Auto bei den Ausläufern des Waldes am Stadtrand und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. Während er den Waldweg entlanglief, sah er zu, wie sich die Sonne hinter den Büschen versteckte und langsam ihrem Untergang entgegenging. Der Himmel sah aus wie gemalt. Zwischen zwei verwachsenen Büschen, von denen einer voller vertrockneter Blätter war, verließ er den Pfad und bog rechts ab. Noch circa. 550 Meter, dann wäre er am Ziel. Vereinzelte Zweige peitschten ihm gegen Arme und Beine, während er sich durch das Dickicht fortbewegte. Hierher verirrte sich kaum jemand. Schließlich stand er vor einer verwitterten alten Holzhütte. Vor Jahrzehnten war sie mit Sicherheit ein Schmuckstück gewesen, heute sah man ihr beim Verrotten zu. Hans stieg die zwei kleinen Stufen hinauf und öffnete die Tür. Sie knarrte und schleifte beim Öffnen leicht über den Boden. Als er eintrat, wehte ihm die deutlich kühlere Luft im Inneren einen sandig-schimmeligen Geruch entgegen. Er sog ihn tief in sich auf, denn so roch die Freiheit. Hier in dieser Hütte hatte er das Sagen und konnte tun und lassen, was ihm beliebte. Hier war er der König. »Guten Abend Hans«, ertönte es aus der Ecke, die man von der Tür nicht einsehen konnte. Erschrocken fuhr er herum und bewegte sich vorsichtig auf die fremde Stimme zu. »Wer sind Sie, und was tun Sie hier?« »Ich habe gelesen, solange ich gewartet habe.« Es raschelte, und ein Mann erhob sich aus dem alten Ledersessel mit den zerschlissenen Armlehnen und trat vor. Er war etwa Mitte vierzig, schlank und hatte kurzes dunkelblondes Haar, das er trotz der geringen Länge präzise über dem rechten Auge gescheitelt trug. Der Bart war kurz und sah gepflegt aus. Sein Erscheinungsbild wirkte elegant, wie jemand, der sich um Geld keine Sorgen zu machen brauchte. Hans überlegte, doch er kannte ihn nicht. »Wer sind Sie, verdammt noch mal, und wie sind Sie hier reingekommen?«, verlangte er zu wissen, die Ader auf seiner Stirn pulsierte. Der Mann lief drei Schritte bis zum Wandregal und stellte das Buch »Taxidermie« zurück. »Interessante Lektüre haben Sie da«, bemerkte der Fremde, ohne auf eine von Hans’ Fragen zu reagieren. Dieser wurde immer wütender. »Was willst du von mir, du Penner?« »Na na, vergessen Sie nicht Ihre guten Manieren!«, lachte der Fremde. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. »Verschwinde, sonst mach ich dir Beine, Arschloch«, drohte Hans und ballte langsam die Fäuste, während der Fremde seelenruhig mit den Fingern über die einzelnen Buchrücken strich. Hans platzte fast vor Wut. »Ich gehe, wenn Sie mir eine Frage beantworten können, mein Lieber«, sagte der Fremde und sah über die Schulter. »Was soll der Mist? Verpiss dich!«, brüllte Hans mit zunehmend feuchter Aussprache. Er trat zwei Schritte auf ihn zu und hob den Arm, um dem Fremden eine zu verpassen. »Nein? Gut, dann haben Sie ihr Schicksal besiegelt.« Mit diesen Worten wirbelte der Fremde herum. In der Hand hielt er eine von Hans’ massiven Messingbuchstützen und holte aus.
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