(Achtung, kein Thriller!)

Langsam gleiten die Schiebetüren auseinander, als mich der Bewegungssensor erfasst. Ich trete ein und begrüße ein paar ältere Herrschaften, die es sich auf der quietschgelben Couch im Eingangsbereich gemütlich gemacht haben. Leises Gezwitscher dringt an meine Ohren. Es kommt aus einer geschützten Ecke des Raumes, in der ein großer Vogelkäfig mit vier Wellensittichen darin steht. Fröhlich trillern sie sich zu. Der grüne Vogel erinnert mich an Jacky, meinen Wellensittich, den ich mit 7 Jahren als Haustier hatte. Dieser aufgeweckte Kerl war eine Bereicherung für die ganze Familie. Sein liebstes Spielzeug war ein kleines grünes Plastiktöpfchen aus einem Stapelbecherspiel, das ich als Kind mein eigen nannte. Den ganzen Tag war er damit beschäftigt. Ich muss schmunzeln beim Gedanken daran und werfe den Vögeln ein paar Zwitscherlaute zu. Hoffentlich beleidige ich sie nicht aus Versehen, denn was auch immer ich da trällere, könnte ja sonst was bedeuten.
Ich setze meinen Weg fort. Er führt mich an der Gemeinschaftsküche in der ersten Etage vorbei. Und da sehe ich ihn schon sitzen, meinen Opa. Die Beine übereinandergeschlagen und den Kopf auf seine Hand gestützt, schaut er ins Leere. Klarer Fall von Langeweile. Ich begrüße alle im Raum mit einem fröhlichen »Hallo«. Von den drei Herrschaften, die hier zugegen sind, grüßt nur mein Opa zurück, ohne zu wissen, dass ich es bin. Die Frau, die mit ihm am Tisch sitzt, nickt mir immerhin zu. Erst als ich auf ihn zu gehe, hebt er den Kopf.
»Kati?«
Ich bejahe und drücke ihn herzlich an mich.
»Kommst du mich abholen?«
»Nein heute nicht. Es ist saukalt draußen. Ich dachte, ich besuche dich und wir quatschen ein bisschen.«
»Ja, das können wir machen.«
»Na dann lass uns in dein Zimmer gehen«, muntere ich ihn auf und schiebe ihm seinen Rollator hin.
Auf dem Flur begegnen wir Schwester Anastasia. Ich mag sie. Sie scheint immer gut gelaunt zu sein und geht liebevoll aber auch resolut mit den älteren Herrschaften um. Man spürt, dass sie ihren Job gern macht, selbst wenn es ein sehr anstrengender Beruf ist, der maßlos unterbezahlt ist. Ein Hauch Desinfektionsmittel umgibt sie. Wir gehen weiter. Auf der Uhr im Flur steht 15:03 Uhr.
»Ui, jetzt muss ich aber schnell auf die Toilette«, sprudelt es plötzlich aus Opa heraus.
»Na dann los, ein paar Meter haben wir noch vor uns,« antworte ich ihm, da er es selbst nicht mehr erkennen kann.
Mit 5 km/h flitzen wir los. Vorbei an den bunten Fotografien einer längst vergangenen Zeit, die den Flur kunstvoll aufhübschen.
»Ui, ui, ui«, wiederholt er sich und wirkt etwas angespannt.
»Geht es noch?«, frage ich besorgt nach, denn so ein Pipiunfall ist nicht ohne.
»Ja, ja!«
Als wir in seinem Zimmer ankommen, stürmt er in seiner trägen Art und Weise das Bad und lässt der Natur endlich freien Lauf.
Nach ein paar Minuten kommt er wieder raus und ich sage ihm das Gleiche, das ich meinen Kitakindern immer sage: »Hände waschen nicht vergessen.«
»Ja!« Damit dreht er sich abrupt in der Tür um und ich höre das Rauschen des laufenden Wasserhahns. Danach setzt er sich gemütlich in seinen Sessel.
»Und, du wolltest mich jetzt abholen,« fragt er erneut.
»Nein, heute nicht es ist zu kalt draußen. Wenn es wärmer wird, können wir wieder einen Ausflug machen«, antworte ich.
»Ist gut. Welchen Monat haben wir jetzt?«
»Es ist März.«
»Ja, da ist es frisch draußen. Was wollen wir jetzt machen?«
»Möchtest du eine Waffel? Ich habe dir welche mitgebracht.«
»Ja gern!«
Ich hole die Packung aus meiner Tasche und lege ihm zwei auf den Tisch. Er bedankt sich und knabbert genüsslich los.
»Die schmecken gut, nicht wahr?«, frage ich ihn mit vollem Mund.
»Ja, danke!« Ein paar Krümel lösen sich von dem Gebäck und fallen ihm in den Schoß. »Und, du möchtest mich jetzt abholen?«
»Nein, heute nicht. Es ist zu kalt draußen. Heute komme ich dich nur besuchen. Wir können uns ja ein bisschen unterhalten.«
»Ja das ist nett von dir, dass du mich besuchen kommst.«
Meine Mundwinkel heben sich amüsiert, denn dieses Gespräch führe ich mindestens drei Mal bei jedem Besuch. Es gibt die immer gleichen Fragen und die immer gleichen Geschichten. Nicht jeder Mensch kommt damit klar. Es kann belastend und frustrierend sein, aber diese Gefühle lasse ich nicht zu. Ich akzeptiere ihn so wie er ist, inklusive der Vergesslichkeit, denn er selbst weiß ja nicht, dass er mir das alles schon erzählt hat. Für ihn ist es das erste Mal.
»Welchen Monat haben wir?«
»Es ist Anfang März.« Während er nickt, überlege ich ihm eine knifflige Frage zu stellen.
»Du hattest letzte Woche Geburtstag, weißt du wie alt du geworden bist?«
»Nö, keine Ahnung.« Er schüttelt begleitend den Kopf.
»Wir haben das Jahr 2020«, helfe ich ihm auf die Sprünge.
Einen kurzen Moment hält er inne. »Mensch, dann bin ich ja jetzt schon 100«, ruft er erstaunt aus.
»Ja das stimmt. Wahnsinn oder?«
»Ja. Früher war ich ja immer krank und mein Kollege sagte dann: Walter, wenn du deine Krankheit auskuriert hast, dann wirst du mal ganz alt.«
»Da hatte er recht«, antworte ich und muss wieder lächeln, denn ich bin froh, dass ich ihn noch habe.
Mein anderer Opa ist gestorben, da war ich ungefähr 11. Er lebte in einer Gartenanlage in einem kleinen Häuschen, rauchte viel und trank gern mal einen über den Durst. Das Ende vom Lied, er schlief mit einer brennenden Zigarette ein. An den Geruch kann ich mich noch ganz genau erinnern. Er hing in jedem Stein des Hauses, das wir ein paar Tage später besichtigt haben. Dieser beißende, verräucherte Geruch, der an einem haftet wie Kleber.
»Habe ich noch was zu trinken da«, reißt er mich aus den Gedanken.
»An was dachtest du? Wasser?«
»Nö. Hab ich noch Schnaps da?«
»Ich schaue mal nach«, sage ich und öffne den Schrank. Und da stehen sie, in Reih und Glied. Unzählige kleine Kräuterliköre, die er zum Geburtstag geschenkt bekommen hat. Um ihn muss ich mir diesbezüglich keine Sorgen machen. Er selbst bedient sich nicht am Schrank, ich vermute, weil er nicht mehr so gut sieht, außerdem raucht er nur draußen und in Begleitung. Er öffnet das Fläschchen, das ich ihm reiche, setzt es an seine Lippen und legt den Kopf in den Nacken. Mir fällt der Spruch ein: »Nicht lang schnacken, Kopp in Nacken!« Dann beobachte ich gespannt seine übliche Reaktion und sie kommt prompt.
»Brrr, brennt das«, ächzt er, streckt die Zunge heraus und schüttelt sich. »So, was können wir denn jetzt noch machen?«
»Wir können uns über alte Geschichten unterhalten. Was meinst du?«
»Ja, das können wir machen.«
Erneut erzählt er mir davon, dass er und seine zwei Brüder im Krieg waren und das es ein Glück war, das sie alle drei unversehrt wieder zurückkamen. Er erinnert sich daran, wie er mit meinem Vater, der damals ein kleiner Junge war, losgezogen ist und sie ihren ersten Fernseher kauften. Er erzählt wie froh er war den Führerschein gemacht zu haben und mit dem Auto das Umland von Berlin erkunden konnte. Er berichtet mir von seiner Freundin Nelli, die er in Norwegen hatte, erzählt davon wie er meine Oma beim Tanzen kennengelernt hat und wie sie sich auf einem Bahnhof treffen wollten und sich nicht gesehen haben. Und er weiß, dass er jeden Montag zur Sauna geht. Seit Jahren nicht mehr, aber für ihn ist es noch aktuell. Mittlerweile hat mein Vater das schwitzende Erbe angetreten und trifft sich mit Opas Saunatruppe. Unzählige dieser kleinen Erinnerungen gibt er zum Besten. Einige verblassen allmählich in seiner Ausführung und werden kürzer.
»Habe ich noch etwas zum Essen da?«, reißt er mich aus den Gedanken.
»Es ist alles da. Die Schwestern machen dir nachher etwas zum Abendbrot.«
»Das ist gut. Was können wir jetzt noch machen?«
Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach vier. »Ich muss jetzt leider los, aber ich komme übermorgen wieder,« erkläre ich ihm.
»Welcher Tag ist heute, Samstag?«
»Es ist Dienstag.«
»Ach na ja, jeder Tag ist hier gleich, da kann man sich schon mal irren.«
Lächelnd gebe ich ihm recht. »Ja das stimmt. Soll ich dir das Radio oder den Fernseher anmachen?«
»Ja, den Fernseher bitte.«
Ich stelle ihm die Tagesschau ein, drücke ihn herzlich und verabschiede mich.
Auf dem Weg zum Auto denke ich über ihn nach.
100 Jahre lebt dieser Mann, mein Opa schon auf der Welt. Hätte er den Krieg nicht überstanden, würde es mich, meinen Vater und meinen Sohn nicht geben. Er hat so unglaublich viel erlebt und ich wünschte mir, ich hätte früher das Interesse an seinen Geschichten gehabt. Zu der Zeit, als er Nachfragen noch beantworten konnte. Heute ist es lediglich ein Abspulen von Erinnerungen, die immer spärlicher werden. Ich hätte sie gern alle aufgeschrieben. Wehmütig steige ich in mein Auto und fahre nach Hause.

Dieser Besuch ist drei Wochen her. Seitdem war ich nicht mehr bei ihm. Die jüngsten Ereignisse halten mich davon ab.
Corona.
Niemand darf rein oder raus. Auch wenn ich weiß, dass man sich gut um ihn kümmert, ist diese Situation einfach furchtbar, denn das Personal hat nicht die Zeit, um sich für eine Stunde mit ihm hinzusetzen und sich seine Geschichten anzuhören oder mit ihm ausschweifend zu plaudern. Ich frage mich, ob ihn diese Situation verändern wird, auch wenn er jeden Tag vergisst. Ob ihn der fehlende Kontakt zu uns verkümmern lässt?
Ich hoffe sehr, dass ich ihn bald wieder besuchen darf, damit er mir zum gefühlt hundertsten Mal die Geschichte erzählen kann wie er sein Leben lang als Autopolsterer gearbeitet hat, wieso er keinen Garten wollte und warum man an der Front nicht raucht.


24.03.2020